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15.20 Uhr, Atelierbesuch in Nichträumen und Schattenseelenlandschaften
»Der heißeste Platz der Hölle ist für jene bestimmt,
die in Zeiten
der Krise neutral bleiben.«
Dante Alighieri (1265–1321)
»Nimm ihn in den Mund« – dieser Satz ist allen, die Pornofilme kennen, also allen, bekannt, und die wenigen, die ihn nicht daher kennen, haben trotzdem sofort ein Bild im Kopf, nur ein anderes, als das von eben diesem wie gewohnt titellosen von Kathrin Brömse. Jenes Bild, das wie ein Initial eine tragende Malidee formuliert, die den Beginn einer Serie darstellt, die zunächst nicht als solche gedacht war und doch die Bilder der folgenden Jahre durch einen erzählerischen Kern tief menschlicher Geschichten hell beleuchteter Seelenschatten verbindet.
Ein Mann, wenn es einer ist, steht ab der Hüfte aufwärts im Bild. Ein Zweiter, oder ist es auch hier eine Zweite, steht dahinter – und ab jetzt denke ich bei Brömses Bildpersonal, wenn ich einen Menschen in ihren Malräumen sehe, schon nicht mehr ein Mann oder eine Frau, sondern nur noch eine Person. Doch da dieser Person hier sowohl eine repräsentative Rentenkassenpersönlichkeit wie auch ein anerzogener Versandhaus-katalogcharakter fehlt, fällt in mir zugleich der Begriff Figur. Die Erste ist kahl wie die Zweite und doch wächst ihr eine Art Zopf aus dem Hinterhaupt, die leicht gebeugte zweite Person nimmt diesen in den Mund. Nimmt sie ihn wirklich in den Mund oder wächst er dort hinein und was denkt sich Brömse dabei oder bin nur ich es, der sich etwas denkt, der die Sprache des Bildes im Kopf hört, so wie zu nahe Stimmen am Nachbartisch in einem Kaffeehaus, die du verstehst, dann wieder nicht, die du aber in keinem Fall abschalten kannst? Nur so kann es sein, ich alleine höre es erzählen, denn die Vordere presst die Lippen zusammen und die Andere hat den Mund voll. Das Bild ist demnach ganz still, sagt kein Wort, so wie keines der Bilder von Kathrin Brömse überhaupt ein Wort sagt, so wie sie selbst selten ein Wort zu ihren Bildern sagt, so wie ich nie richtig weiß, ob die Individuen auf den Bildern, denen auf eigenartig beruhigende Weise etwas Individuelles fehlt, Mann, Frau, Neutrum oder schlicht allumfassend androgyn sind und die mir dann trotz allem vertrauter als mein eigenes Spiegelbild vorkommen. Mein Spiegelbild ist 41 Jahre alt, männlich, meist schlecht rasiert und weist in allen Kopf- , Bart- und Brusthaarteilen anfängliches, wenngleich zögerliches Grau auf – so betrachtet besteht keinerlei Ähnlichkeit zu den Abgebildeten. Sind es also doch nur weitläufige Verwandte dritten Grades, Ahnenportraits oder verschattete Momentaufnahmen von alten Persönlichkeitsbildern, die ich längst vergessen oder verdrängt habe und in deren Mitte ich mich nun wiederfinde und Dante Alighieris ersten Höllengesang höre? – »O erbarme dich, Du, seist du Schatten, seist du Mensch zu nennen.«
Die Ateliertür ist geschlossen, nicht versperrt, Bilder rasten, unregelmäßig verteilt, an die Wände angelehnt, es ist ruhig im Raum, ich spreche nicht, und die, die mich umgeben, ruhen wie gewohnt fast schweigsam im Bildinneren – worüber sollten sie auch reden, was haben sie schon zu sagen, was erlebt? Und dann fangen sie doch an zu erzählen, in mir, und alle zeitgleich und alle sagen alle zwei Minuten das Gegenteil von dem, was sie zuvor gesagt haben – ein aporetisches Babylon – und ganz gegen meine Erwartung wird aus vagem Verständnis Verstehen, und daraus so eine Art Wahrheit, die sogar ihren eigenen inneren Widerspruch aushält und wenn so etwas passiert, entsteht mit ein bisschen Glück auch Gutes. Schon beim Aufkommen dieser edlen Einsicht verliebe ich mich in mich selbst und dann in die Figuren, auch wenn der Apostel Matthäus sagt, dass das alles so nicht geht und nicht rechtens ist: »Eure Rede aber sei: ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist von Übel.«
Merkwürdig muss es für diese eigenartig wahrhaften Gestalten gewesen sein, sich fast plötzlich auf einer Leinwand wiederzufinden, Widersprüche auszulösen und doch einfach still dazustehen und weder nur »ja« noch »nein« zu skandieren; was die Frage aufwirft, wo sie vorher waren und auch die, was sie jetzt sehen, erleben, schmecken, spüren, dort wo sie sind. Die, die aus dem Bild herausschauen, könnten aufgrund der Baumkronenhöhe vor dem Fenster fast richtig vermuten, dass sie sich im dritten Stock befinden, und vielleicht wären sie auch in der Lage, die Quadratmeterfläche des Ateliers auszurechnen, wenn sie dies ohne Zuhilfenahme der Finger oder ohne leises Vor-sich-hin-Murmeln bewerkstelligen können, denn einige Finger sind zusammengenäht oder mit dem Zusammennähen der eigenen Fingern beschäftigt. Münder sind verschlossen, Augen blickungerichtet, aber aufmerksam, sodass sie in ihrer Zwischenwelt, die weder Bild- noch Umgebungsraum ist, das dezente Nordlicht, den Holzboden, die Wachshautkörpern und die mit ihnen verschwägerten Zeitungsausschnitte und Leimpötte als angenehm empfinden könnten. All jene, deren Blick jedoch von der Malerin ins Bildinnere gerichtet wurde, die also nicht über den Bildrand hinaus schauen können, all jene sehen zunächst nichts. Ihnen fehlt nicht nur im wahrsten Wortsinne der Hintergrund, sondern sogar die bloße Andeutung von Raum, und da wo es keine Räume gibt, gibt es auch keine Zeit, nur hier und da ein paar kleine Attribute, die den Figuren zugeordnet sind: eine Nadel, ein roter Faden, eine Schwimmweste, ein gelber Vogel, dessen Gattung unbekannt bleibt, weil er im wesentlichen poetisch und nicht ornithologisch existiert. Die Kleidung, wenn sie zu finden ist, bleibt spärlich, so richtig nackt ist aber auch keiner, dafür ähneln sich die Gesichter, wenn sie nicht verwischt oder übermalt sind – sei’s drum, mein Gehirn will jetzt einen Begriff, und da die Bilder und ihre Figuren sich nicht festlegen, weder auf ein Geschlecht, eine Stimmung, einen Raum noch auf eine Zeit, bleibt mir nichts anderes übrig, als sie auf meiner inneren Bühne auftreten zu lassen und so sage ich der einen, sie sei melancholisch und der anderen, sie sei verletzt, und da ich sie jetzt schon nicht mehr auseinanderhalten kann, sind plötzlich beide melancholisch und verletzt und zwar ab sofort und mir ist klar, dass ich es ebenso bin, nur mit dem Unterschied, dass ich meine Verletzungen kenne, sie benennen könnte und sogar in der Lage wäre, zu unterscheiden, ob man sie mir zugefügt hat oder ob ich sie mir selbst zugefügt habe. Auch könnte ich darüber Verbindlichkeiten schaffen, ob etwaige Selbstheilungskräfte die Wunden geschlossen haben, ob sie noch offenliegen oder weiterer Behandlung unterzogen worden sind oder werden müssen. Natürlich weiß ich all dies für das Bildpersonal Brömses nicht und da keine erbärmlichen Dramaspuren in den Gesichtern ihrer Figuren zu finden sind, weil sie wohl nie von den kunstgeschichtlichen Briefbeschwerern der antik-altmeisterlichen Laokoongruppe getroffen wurden, von der Lessing behauptet: »Wenn Laokoon also seufzt, so kann ihn die Einbildungskraft schreien hören«, und Brömses Figuren im Vergleich dazu jenes Pathos fehlt und das inhaltsbeschwerte Leid ebenso, bin ich mir nicht mehr sicher, ob es in den Bildern überhaupt um Verletzungen geht oder schlicht um Verletzlichkeit und ob die Melancholie nicht einfach nur Stille ist.
Meine derart ins Ungewisse schwatzende Zunge scheint für den Moment aufgebraucht, und so nehme ich sie mir aus dem Mund, und als ich sie zu den anderen Zungen in meiner linken Hand stecke, merke ich plötzlich, dass die Geschmacksknospen, insbesondere die, die den Witz erschmecken, auf der Handfläche kitzeln und mit einem Mal kommen mir Brömses Bilder komisch vor, nicht merkwürdig, sondern humorvoll. Ich habe mir einmal mit einem Klappspaten auf den Nagel des Daumens der linken Hand gehauen und vor Schmerz gelacht, zeitgleich muss mein Gesicht aber eine andere Geschichte erzählt haben, wie man mir später glaubhaft berichtete – haben Sie einen Klappspaten? Falls nicht, vielleicht hilft es Ihnen zu erfahren, dass in Brömses Atelier und auch jetzt, um mich herum, im Moment des Schreibens, stapelweise Joghurtbecher der Marke »Weideglück« stehen, in denen sich laut Hersteller 3,5%iger Allgäuer Landjoghurt befand – in einigen stehen Pinsel, in anderen Farbreste und urinfarbene Flüssigkeiten: Mehr Stereotyp halte ich selbst nicht mehr aus, nehme also mein Gehirn aus dem Kopf, halte es eine Weile in meiner linken Hand und presse es zusammen wie einen Frosch, den ich alternativ auch hätte aufblasen können, das Schmerzzentrum signalisiert mir, es tut weh, mein Verstand erhebt Einspruch: »Gehirne sind schmerzfrei«, trotzdem schreie ich: »Aus mir kriegen Sie nichts raus« – ich glaube so werden Geheimagenten trainiert, die hinter feindlichen Linien agieren; und wenn ich noch ein wenig fester drücke, dann fliegt der gelbe Vogel, der vor einem Augenblick aus meinem Mund in die Welt geboren wurde, wieder rückwärts in mich hinein oder sonst wohin und verschwindet, für immer, und da ich ihn sehr gemocht habe, nähe ich mir mit der einen Hand die Finger der anderen zusammen, wickle mich in die farbbetropfte Folie, die zwei Drittel des Atelierbodens bedeckt, und erkläre mich selbst für tot. Selbstverständlich ergeben die Bilder nun einen anderen Sinn, denn es ist nicht mehr wichtig, ob ich ein Mann oder eine Frau bin und ich denke nicht mehr alle sieben Sekunden an Sex und der Satz »Nimm ihn in den Mund« kann jetzt alles mögliche bedeuten – natürlich nicht – aber ich habe keine Angst mehr, dass mich einer verletzt, dass ich abermals einen Therapeuten aufsuchen muss, der unnötigerweise mein Liebstes, meine Melancholie, kurieren will. Ich bin tot und weiß jetzt, dass alle Figuren auf den Bildern nur eine Person sind, die eine Persönlichkeit formen, dass ich es bin, denn ich bin viele, und je weiter ich mich in die Folie einrolle, desto verschwommener mein Blick auf die Außenwelt dadurch wird, je näher sind mir die Bilder: ich kann es Ihnen nur anraten, besorgen Sie sich ein Stück Folie, einen Klappspaten, essen Sie einen Becher Landjoghurt der Marke »Weideglück« und sterben Sie und ich verspreche Ihnen, die Bilder rücken Ihnen näher, vielleicht werden sie Ihnen sogar vertraut.
Georg Mertin, August 2011
Statt einer Arbeitsbeschreibung in fünf Sätzen eine Denkanregung in fünf Fragen:
– Wie kann man mit Hilfe der menschlichen Figur etwas sichtbar machen, untersuchen und erläutern, was jenseits von Sprache liegt?
– Wie kann man beim Freilegen von Schichten der menschlichen Existenz die Beschädigungen und Irritationen erkunden, die dabei zu Tage treten?
– Sind Beschädigungen und Irritationen tatsächlich korrekturbedürftig?
– Kann man sich selbst in der Existenz oder dem Zustand eines anderen wieder erkennen?
– Kann man nur mit einem Bild die Wahrnehmungsgewohnheiten eines anderen verändern?
Deine Arbeiten wirken oft finster und düster.
Ja, das höre ich öfters. Aber das, was versteckt ist, was sich unter der Oberfläche befindet, ist ja nun mal meistens finster. Aber wenn Du etwas genauer hinschaust, findest Du auch Lächerlichkeiten, Absurditäten und Humor.
Beschäftigst Du Dich ausschließlich mit der menschlichen Figur?
Ja. Eine zeitlang habe ich auch kleinere abstrakte Zeichnungen gemacht, aber das wurde sehr schnell formelhaft und dadurch für mich uninteressant. Und die Möglichkeiten der Irritation waren mir zu beschränkt.
Warum hat die menschliche Figur so eine Faszination für Dich?
Einmal, weil alles, was wir sind, denken, fühlen und tun, sich zunächst innerhalb der Grenzen dieses Körpers abspielt. Von da aus kann es nach außen dringen in Form von Kommunikation. In welcher Art und Weise sich diese Kommunikation äußert, lässt wiederum Rückschlüsse auf das Innenleben zu. Zweitens, weil sich jeder damit identifizieren kann. Jeder hat einen Körper, jeder ist mit dem menschlichen Körper als Bild vertraut. Das reicht von der Venus von Willendorf über die Statuen der Klassischen Antike, der Aktmalerei des 18. und 19. Jahrhunderts bis hin zu den „Körperwelten“. Der menschliche Körper – seine Bewunderung und Entschlüsselung, seine Defizite und seine Formbarkeit – ist seit jeher ein wichtiges Thema. Daher eignet er sich besonders gut dazu, durch Abweichungen zu irritieren.
Ginge das nicht auch mit einem anderen Ding, einem Tisch, einem Haus? Das sind ja auch sehr vertraute Bilder.
Aber es sind Gegenstände, die befinden sich ja außerhalb von mir. Da ginge es um „Das Eine“ und „Das Andere“. Wenn ich es als Betrachter mit dem menschlichen Körper zu tun bekomme, geht es um „Ich“ und „Das Andere“. Man gleicht sich ja auch im sozialen Umgang permanent mit anderen ab, wie agiert der andere, wie reagiere ich. Das gleiche tut man mit dem Bild des Körpers. Man gleicht sich selbst ab mit dem, was man sieht. Das mache ich mir zunutze.
Empfinden deswegen viele Betrachter Deine Arbeiten als finster?
Das kann schon sein. Wenn man in einer Figur, die einen irritiert oder gar abstößt, plötzlich etwas von sich selbst erkennt, kann das natürlich etwas beunruhigend sein.
Was genau hat es mit den Irritationen auf sich, das taucht ja immer wieder auf?
Der Begriff der Irritation ist mir ziemlich wichtig, er grenzt nämlich vom „Schockieren“ ab. Es geht mir ja nicht um Schockeffekte, weil die zwar heftig, aber nur kurzfristig wirken. Mir geht es eher um etwas Leises, fast Unsichtbares, das sich einschleicht und einnistet und immer wieder zum Vorschein kommt.
Das klingt ziemlich hinterhältig. Wie erreichst Du das?
Hinterhältig, das gefällt mir. Ich benutze die menschliche Figur als Spiegel von individuellen und gesellschaftlichen Befindlichkeiten. Diese Befindlichkeiten sind aber kodiert. Es geht nicht um so konkrete Dinge wie Umweltverschmutzung oder U-Bahn-Attacken. Sowohl in den Arbeiten auf Leinwand als auch in den Zeichnungen und in den Objekten, die ich früher gemacht habe, begegnet uns Bekanntes, das wir anfangen zu lesen, dann aber stecken bleiben, weil die Zusammenhänge verschoben sind. Die dem Auge sofort entzifferbare menschliche Figur wird in eine Situation gestellt, die auf den ersten Blick ebenfalls eindeutig erscheint, sich bei näherer Betrachtung jedoch als unpassend oder widersprüchlich erweist. Dadurch ergibt sich die Verschiebung der Zusammenhänge und in deren Folge eine Irritation, die hoffentlich länger andauert als der Moment der Betrachtung.
Was willst Du mit der Irritation bezwecken?
Ich möchte Doppelbödigkeiten und Vielschichtigkeiten zeigen. Kaum etwas ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Und wenn etwas nicht so ist, wie es zunächst aussah, ist das dann wirklich so schlimm …
… Bilder als Trainingsobjekte für den Umgang mit Unsicherheiten?
Ja, das ist nicht alles, aber das trifft es trotzdem ganz gut. Eine der typischen Fragen von Ausstellungsbesuchern ist ja „Was wollen Sie denn damit sagen?“ Diese Frage bringt mich immer in regelrechte Verzweiflungszustände. Am liebsten würde ich dann antworten „Wenn ich das hätte sagen können, hätte ich ein Essay geschrieben anstatt ein Bild zu malen.“ Das mache ich aber natürlich nicht, ich stelle dann die Gegenfrage „Was sehen Sie denn darin?“ Dann passiert meistens etwas sehr interessantes: Die Leute fangen an zu überlegen, und ich bin sicher, dass sie auch unzählige Ideen haben zu dem, was sie da sehen. Sie trauen aber den eigenen Ideen und Gefühlen nicht. Sie fragen lieber den Experten, was in dem Fall völlig absurd ist, denn das Eigene in diesen fremden Bildern zu entdecken ist ja eines der Dinge, die ich bezwecke. Ein Ausstellungsbesucher ist ja kein leeres Gefäß, das mit Expertenwissen gefüllt werden muss. Jeder kommt mit seinen eigenen Erfahrungen, Erlebnissen und auch Beschädigungen, und die beeinflussen seine Sicht auf die Welt. Ich versuche nur, diese Sicht ein bisschen zu vertiefen und zu erweitern. Wenn sich Besucher darauf einlassen können, entstehen daraus dann oft sehr interessante Gespräche. Manche allerdings verlieren sie dann das Interesse, vielleicht weil es zu anstrengend ist. Ich merke gerade, dass das alles ziemlich pädagogisch klingt, ich bin aber wirklich nicht mit einem erzieherischen Auftrag unterwegs.
Du hast mir in Vorbereitung auf dieses Gespräch die fünf Fragen zu einer Denkanregung gegeben. Da taucht auch die Frage nach der Korrekturbedürftigkeit von Abweichungen auf. Was hat es damit auf sich?
Ja, diese fünf Fragen sind eigentlich die Essenz dessen, um was es mir in meiner Arbeit geht. Was die Korrekturbedürftigkeit angeht, vielleicht habe ich da auch irgendwie eine Brille auf, aber ich habe sehr oft den Eindruck, dass die Gesellschaft – ob nun in Form von kleineren Personengruppen oder in Form staatlicher Behörden – individuelle Andersartigkeiten zu korrigieren versucht. Es gibt in der Sozialpsychologie Theorien dazu, wie sich Gruppen zu vermeintlich „Andersartigen“ verhalten. Das genauer auszuführen, würde jetzt etwas zu weit führen. Was aber wäre so gefährlich daran, einen anderen einfach anders sein zu lassen, so lange er mich nicht bedroht?
In der ersten Frage geht es um das Sichtbarmachen von etwas, das jenseits von Sprache liegt. Was genau meinst Du mit „jenseits von Sprache“?
Das ist schwierig zu beschreiben. Ich meine damit etwas, das undeutlich und verschwommen ist, noch so roh und nur eine Ahnung, dass jedes Fassen in Sprache ein Zurechtstutzen wäre. Etwas, das eigentlich unsichtbar ist, von dem man aber weiß, dass es da ist. So wie die Rückseite des Mondes. Wir wissen, dass sie da ist, aber wir können sie nicht sehen (Mit Hilfe von Raumsonden und Teleskopen können wir das inzwischen natürlich schon, aber damit setzt dann quasi schon die Sprache ein.) Mark Twain hat ja mal gesagt, jeder Mensch sei wie der Mond, mit einer dunklen Rückseite, die er niemandem zeigt. Um diese unbeschriebene geheime Rückseite geht es. Und ich bin die Raumsonde.
Das Bild von der Sonde gefällt mir. Wie arbeitest Du, wie gehst Du an ein neues Bild oder Projekt ran?
Da kann ich direkt bei dem Sonden-Bild bleiben, das ist ganz ähnlich. Ich arbeite nicht so, dass ich ein bestimmtes Thema nehme und dann überlege, wie ich es umsetzen kann. Im Gegensatz zu vielen Kollegen, die sich ein Thema vorknöpfen und dann recherchieren, planen und viele Vorzeichnungen machen und Vorbereitungen treffen, befinde ich mich zwischen einzelnen Bildern eher in einer Art Schwebezustand, in dem ich beobachte und warte. Konkret sieht das so aus, dass ich am Schreibtisch sitze und viele kleine Kritzeleien und Skizzen mache und sozusagen auf der Lauer liege. Irgendwann kommt dann plötzlich etwas daher, was mich meist selbst überrascht. Das betrachte ich dann genau.er, und wenn es sich als nachhaltig interessant erweist, übersetze ich es auf die Leinwand. Ich mache dazu aber keinerlei Vorzeichnungen mehr, weil ich befürchte, die Sache „totzuzeichnen“. Wenn es auf die Leinwand geht, muss alles noch ein bisschen offen und Überraschungen und Zufälle möglich sein. Ein bisschen ist das wie wenn man am Strand sitzt und im Sand herumkratzt und auf einmal eine schöne Muschel findet.
Du hast ja mal Archäologie studiert …
… ja, Vor- und Frühgeschichte. Das stimmt, da gibt es gewisse Ähnlichkeiten zwischen einer Ausgrabung und dem, was ich im Atelier mache. Man wühlt mit einem gewissen Plan im Schlamm herum und über weite Strecken tut sich gar nichts, bis dann, wenn man es am wenigstens erwartet, plötzlich etwas Aufregendes und Aufschlussreiches zu tage tritt.
Gibt es Unterschiede zwischen den Arbeiten auf Leinwand und den Zeichnungen?
Ein ganz offensichtlicher Unterschied ist der, dass die Zeichnungen im Gegensatz zu den Leinwänden meist in den Farben sehr reduziert sind. In den Zeichnungen tauchen – zumindest in den letzten Jahren – nur noch die Farben Schwarz, Weiß und ein Rostrot auf. Manchmal auch ein schlammiges Grün. Was interessant ist und was ich mir auch nicht ganz erklären kann ist, dass die Arbeiten auf Leinwand immer als Einzelstücke entstehen, während die Zeichnungen immer in Serien oder Gruppen eingebunden sind. Sie funktionieren auch einzeln, aber sie entstehen immer in Reihen. Gerade bei den Zeichnungen habe ich den Eindruck, dass sie wie ein Schnappschuss aus einer Geschichte sind.
Wie ein Frame in einem Film vielleicht …
Ja, das stimmt. Obwohl ich keine Ahnung habe, was das für Geschichten sind. Aber man kann sich welche dazu ausdenken. Vor einiger Zeit habe ich ein Projekt mit einem befreundeten Schriftsteller begonnen. Er hat kleine Geschichtenfragmente oder eher Momentaufnahmen geschrieben und ich habe dazu Zeichnungen gemacht. Es stellte sich dann aber heraus, dass es anders herum besser funktioniert. Also, wenn die Zeichnungen zuerst da sind.
Wie bist Du eigentlich zur Kunst gekommen? Wenn man Deinen Lebenslauf liest, gibt es da ja ziemlich viele unterschiedliche Stationen.
Nach meinem Lebenslauf sieht es aus, als sei ich auf Umwegen dazu gekommen. Ganz so ist es aber nicht. Mit Kunst hatte ich mein Leben lang zu tun. Mein Urgroßvater väterlicherseits, August Brömse, war Maler und Grafiker und hatte eine Professur an der Prager Kunstakademie. Viele seiner Bilder, Zeichnungen und Lithografien hingen bei uns zu Hause und in der Wohnung meiner Großeltern. Besonders fasziniert hat mich immer ein ca. einmal ein Meter großes Brett, das ihm offenbar zum Ausprobieren von Farben und Bildkompositionen diente. Es ist auf beiden Seiten über und über bemalt mit kleinen Bildchen, von denen man einiges in den größeren Arbeiten wieder findet. Dieses Brett steht jetzt bei mir im Atelier und es ist ganz interessant, dass ich eine ganz ähnliche Farbpalette benutze.
August Brömse ist aber nicht die einzige Verbindung zur Kunst in Deiner Familie, oder?
Nein. Auch mein Großvater mütterlicherseits, Otto Mehrgardt, malte, er war dann später Ausbilder für Werkkunstlehrer und Professor an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen. Von ihm habe ich sehr viel technisches und handwerkliches gelernt. Auch meine Urgroßmutter Maria Lüth malte, Eva Mehrgardt, die Cousine meiner Mutter, ist Künstlerin, mein Cousin Jens Poppe Mehrgardt ist ebenfalls Maler. Auch meine Mutter malt und befasst sich mit so ziemlich allen erdenklichen handwerklichen Herausforderungen.
Das heißt, es war nichts Ungewöhnliches, dass Du Künstlerin werden wolltest?
Naja, ungewöhnlich überhaupt nicht. Ich wurde immer von allen Seiten unterstützt, vor allem von meinen Eltern. Die Tatsache, dass Kunst und Handwerk etwas Selbstverständliches war, hatte den Vorteil, dass alles an Werkzeug, was man brauchte, immer verfügbar war. Man musste es nur nehmen und loslegen. Andererseits war, durch die vielen Erfahrungen mit der Kunst als Beruf, natürlich immer auch der Gedanke an die Brotlosigkeit der Sache da. Auch bei mir rumorte das immer im Hinterkopf herum. Das führte dann dazu, dass ich immer wieder „Auswege“ gesucht habe, es hat mich aber immer wieder auf die Kunst zurückgeworfen, ich bin das nicht losgeworden.
Das klingt ein bisschen nach Schicksal …
Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Ich würde es eher als eine Notwendigkeit bezeichnen.
Gab es einen bestimmten Schlüsselmoment, in dem Du beschlossen hast, dass Du die Kunst zum Beruf machen willst?
Vielleicht noch nicht unbedingt zum Beruf machen … Als ich ungefähr 15 war, gab es in der Zeitschrift ART, die meine Mutter abonniert hatte, einen Artikel über einen wieder entdeckten österreichischen Maler des Expressionismus, Egon Schiele. Das war damals offenbar für weite Kreise tatsächlich eine Neuentdeckung, noch bevor der ganze Hype um ihn losbrach und es Unmengen von Schiele-Postern, -Taschen, -T-Shirts und -Tassen gab. Der Artikel ging über mehrere Seiten und diese Zeichnungen, die ich da sah, haben mich vom Hocker gehauen. Da war mir schlagartig klar: so was muss ich auch machen. Ab da habe ich dann die Sache wirklich ernsthaft betrieben. Auch wenn ich dann noch sehr sehr lange suchen und ausprobieren musste, bis ich meine eigene Arbeitsweise gefunden habe. Das endet auch nicht. Das tue ich bis heute.
Ein nackter Mann mit schiefem Becken vor schwarz: fast könnte man sich Franz Kafka im Lungensanatorium vorstellen. Doch so klinisch-lakonisch wie in Kathrin Brömses ›Die Beobachtung‹ blickt Kafka auf keiner bekannten Fotografie. Es scheint eher, als opferten verzagte, windschiefe Menschen ihr bisschen Individualität dem Objektiv eines Spitalarztes. Aber ihre Blicke kommen nicht mehr nur von Fotos, sondern aus gemalten, munkelnden Zwischenwelten: da schwingt eine Himmelsschaukel aus dem Nichts, ein rüschiges schwarzes Ballkleid wird gerafft, oder es posiert ein mit schielenden Augen gesehenes Ärztekollegium…
Ganz im Gegensatz dazu die drei Großformate, sämtlich ohne Titel. Die Körperlichkeit – das alle Bilder verbindende – ist nur angedeutet in gesichtslosen Silhouetten: nonnen- und kalifenhaft vermummte Wesen in bleichen Farbtönen, denen eine tiefrote Maske oder ein zerlaufener schwarzer Asphaltkopf entgegenrollen. Ist hier der Bildraum fragend leer, so dass die Figuren fast abstrakt wirken, so führen sie in den übermalten C-Prints ein sonderbares, neuartiges Eigenleben, das die Spekulationen sprießen lässt. Oder ist es nur ganz normales Befremden, das einen beim Betrachten da befällt?
Patrick Wilden, Juni 2005
Herr K. hatte geträumt: Er war durch die Stadt gewandert, durch den Park gegangen, hatte sogar eine zeitlang am Seeufer gesessen. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch weder der Architektur, noch der Natur. Herr K. beobachtete stattdessen die Leute, die auftauchten und wieder verschwanden und sich dazwischen in allerlei unergründlichen Tätigkeiten ergingen. Einer war damit beschäftigt, seinen Schatten beiseite zu kehren, eine andere konzentrierte sich auf Verdopplungen ihrer selbst, eine Gruppe erging sich in Experimenten zur Anordnung im Raum. Herr K. prägte sich all das ein, um die Flausen später reichlich ernten zu können. Er machte sich sogar kurze Notizen und verstaute sie in seiner kleinen Umhängeschachtel. Zufrieden lehnte er sich zurück. Da trat unbemerkt ein Mann an ihn heran, scheitelte Herrn K.s Haar in der Mitte und beendete den Traum. Eine Weile noch schaukelte Herrn K.s Gehirn auf den Wellenkämmen des Erlebten, bis es sich langsam und widerwillig zurück in Herrn K.s Schlafzimmer begab. Nun, nachdem Herr K. vollends erwacht war, setzte er sich in seinem wildseidenen Morgenmantel an den schmalen Schreibtisch, breitete die kleinen Bildchen, die von seinem Traum übriggeblieben waren, vor sich aus und begann, die Flausen paarweise zu sortieren, um sie seiner umfangreichen Sammlung einzuverleiben.
Kathrin Brömse, Juni 2021
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